Liebesschlösschen

 

Liebesschlösschen waagerecht hängend
Gestapelte Liebe

Vor vielleicht 10 Jahren fing es an. Jeder, der im Herzen Kölns den Rhein überquert und die Züge donnernd schleichend an sich vorbeiziehen lässt, kennt ihn nur zu gut: den überaus beeindruckenden Pelz der Liebesschlösschen und Liebesschlösser, der das Trenngitter zwischen den Gleisen und dem Fuß-/Fahrradweg der Hohenzollernbrücke bedeckt. An einigen Stellen sind es so viele Schlösschen, dass sie nicht mehr hängen, sondern nahezu waagerecht gestapelt festgeschlossen sind, und laut einer Anzeige der Kölner Verkehrsbetriebe wiegen diese Schlösser mittlerweile zusammen 17 t. Touristen und Passanten bleiben davor stehen und versperren dem Eilenden den Weg – staunend, knipsend, suchend und wiederfindend. Und manchmal entdeckt man ein Paar, das just ein Liebesschloss festgemacht hat und dabei ist, den Schlüssel im hohen Bogen im Rhein zu versenken.

Der Symbolgehalt scheint klar vor Augen zu liegen: Die am Bindungssymbol der Brücke angeketteten Schlösschen sollen ewige Liebe versprechen, ein festes Bekenntnis zweier Menschen für die Unzerbrechlichkeit ihrer Bindung. Was kann es romantischeres geben?

Aber Obacht. Brücken sind nicht nur Symbol für Bindung, sondern auch eines für Übergang und Verwandlung. Und so steckt auch in den Liebesschlösschen psychologisch mehr als es zunächst scheint.

Phänomene…

Das Geschenk

Ein Mann schenkte seiner Frau ein Liebesschloss mit der Anregung, man könnte ja eine Radtour zur Brücke machen und gemeinsam dieses Schloss anbringen. Als Zeichen einer erneuerten und gefestigten Liebe. Über das Schloss hat sie sich wohl gefreut, aber sie ließ es in der Nachttischschublade verschwinden. Dem gekränkten Mann gegenüber äußerte sie, sie wollte selbst bestimmen, wann sie es denn nun anbringen werde.

Lovepicking

Vor einigen Jahren ließ sich eine Künstlerin das zerstörungsfreie Knacken von Vorhängeschlössern zeigen. Sie öffnete Liebesschlösschen, versetzte sie, kettete sie in Girlanden neu aneinander. SPIEGEL-Online widmete dieser Aktion einen Artikel, und sehr lesenswert sind zum Teil die Leserkommentare darunter: Man fachsimpelt über die Sicherung der Schlösser mittels Sekundenkleber, über juristische Aspekte (Wem gehören die Schlösser?) sowie über die in Beziehungsdingen irgendwie „auffällige“ Persönlichkeit der Künstlerin: Ist die überhaupt beziehungsfähig? Sollte sie vielleicht einmal arbeiten gehen? Nur wenige zustimmende Kommentare finden sich.

Masterkey

Lange Zeit hing das im Bild zu sehende Objekt an der Hohenzollernbrücke. Es erzeugt bei fast jedem, dem ich es zeige, ein schallendes Lachen. Mittlerweile ist es mehr und mehr demontiert. Ein bisschen dazu passend ist dieser Artikel auf der Satireseite „Der Postillon“:

http://www.der-postillon.com/2013/09/uber-2000-beziehungen-nach-entfernung.html

Kreissäge als Masterkey
Generalschlüssel

Minnesang

Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.

(Quelle: Wikisource)

Am Beginn des 12. Jahrhunderts hat eine unbekannte Frau dieses Gedicht in einen lateinischen Liebesbrief gesetzt (hier als Facsimile zu bestaunen). Man nimmt an, dass sie höhergestellt war und dass der Brief an ihren geistlichen Lehrer ging. Dessen über eine platonische Liebe hinausgehenden Avancen wies sie in späteren Briefen zurück. Ob sie ein Schloss irgendwo aufgehängt hat, ist nicht überliefert, aber das Symbol des Einschließens findet sich auch hier.

… und die Psychologie dahinter

Polarisierung

Schaut man sich diese vier Phänomene an, so scheinen Liebesschlösschen die Tendenz zu haben, polarisierte Gefühle zu erzeugen. Der Romantik des Liebespaares und der lächelnden Verträumtheit so manchen Betrachters stehen die verspielte Aggression der Lovepickerin und die satirisch grinsende – und von manchem getrennten Menschen auch benutzte – Brutalität des „Masterkeys“ gegenüber (der seinerseits zerlegt wird). Sicherlich von keinem der Liebespaare so gedacht, gibt es eine Kehrseite.

Schloss und Schlüssel

Psychologisch ist meistens das, was man nicht sieht oder worüber nicht gesprochen wird, interessanter als das „Offen-Sichtliche“. Bei dem Phänomen der Liebesschlösschen bekommen wir nur etwas Unvollständiges zu Gesicht. Zu jedem dieser Schlösser gehört nämlich je ein Schlüssel, der im Rhein versunken oder – wie im mittelalterlichen Liebesgedicht – verloren gegangen ist. Indem der Schlüssel verschwindet, wird die Einheit von Schlüssel und Schloss gespalten; der Schlüssel versinkt im Unbewussten, er wird ausgeblendet, verleugnet, keiner redet mehr von ihm. Und das Schloss erstarrt im verschlossenen Zustand. Wird es nicht geknackt oder gar aufgesägt, ist es der langsamen Korrosion preisgegeben.

Viele Partnerschaften funktionieren nach demselben Prinzip; nicht umsonst sagt man, man „schließe“ eine Ehe. Partnerschaften sind jedoch anders als eiserne Vorhängeschlösser (zwischen-)seelische Prozesse, die von ihrer Grundanlage her schon paradox sind: Wir erleben sie als etwas Festes, Geschlossenes und Abgegrenztes, aber etwa wie Amöben sind sie in einem ständigen Verwandlungsprozess. Sie formen sich um, sie nehmen etwas auf und verdauen es, sie schnüren etwas ab, aus dem Neues entsteht. Sie sind also nie „fertig“. Versucht man die Verwandlung aufzuhalten, so geht dies nur über die Abspaltung dessen, das sich wandeln will: Mehr und mehr lagern sich Veränderungswünsche aus, sie werden entweder geleugnet oder nicht ausgesprochen. Die Beziehung erstarrt, indem sich immer weniger Lebendiges darin findet, und der Anteil des Gemeinsamen wird weniger. Als Gewinn entsteht ein trügerisches Gefühl von eherner Sicherheit, während unterdrückte Gefühle von Wut sich als bleierne Müdigkeit bemerkbar machen, die man dem schmeichelnden Umstand zuschreibt, dass man so viel arbeitet.

Das ist der Zeitpunkt, zu dem sich häufig Affären herausbilden: Die verfestigte Gestalt wird erhalten, indem Verwandlungsimpulse nach außen in eine andere Beziehung verlagert und dort gelebt werden. Es kommt zu einer Spaltung zwischen langweiliger, aber Sicherheit spendender Beständigkeit in der Partnerschaft und aufregender Verwandlungsdynamik ohne Festlegungsanspruch in der Affäre.

Luftschlösser

Liebesschlösser im Kreuz
Luftschlösser am Kreuz

Die Paradoxie der Liebesschlösser ist also, dass sie zwar vordergründig von einer unzerbrechlichen Partnerschaft erzählen, uns im Hintergrund aber gleichzeitig zeigen, was viele Partnerschaften zerbrechen lässt: die Exkommunikation dessen, was Beunruhigung, vielleicht auch Schmerz, andererseits aber gleichzeitig wichtige Impulse für Entwicklung und Wandlung bringen könnte. Die Liebesschlösser entpuppen sich als illusorische Luftschlösser, wenn man sie ohne ihre Schlüssel sieht.

Darum: Wenn Sie demnächst über die Hohenzollernbrücke gehen und die bunten Schlösschen bestaunen, denken Sie einmal an die vielen Schlüssel und damit an die vielen Entfaltungsmöglichkeiten, die da im Rhein liegen! Und falls Sie als Paar gerade dabei sind, den Schlüssel zu „versenken“, überlegen Sie sich gut, ob Sie ihn nicht lieber behalten und ihm einen würdevollen Platz geben wollen. Es kann auch ein schönes Ritual werden, an Wendepunkten der Partnerschaft dem Schloss, das mit den Jahren Patina bekommen hat, immer wieder einen neuen Platz zu geben. Die Kreissäge kann dann hängen bleiben, und wird das Schloss geknackt – Sie haben immer noch den Schlüssel in der Hand!